Page 54 - German Council Magazin 02.2021
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GERMAN COUNCIL . INTERVIEW
»Die Zukunft kommt nicht, migung für einen Handwerks- oder Pro-
duktionsbetrieb zu erhalten. Selbst wenn
sondern wird gestaltet. heutzutage aufgrund vieler digitalisierter
Prozesse längst nicht mehr so viel Lärm
und Schmutz anfallen, wie das früher
Und zwar von uns selbst!« der Fall war. Die gesetzlichen Vorgaben
sind restriktiv und Platz grundsätzlich
Mangelware – und extrem teuer.
Max Thinius, Futurologe und Zukunftsgestalter, über Innovations-
willen in Bad Berleburg, maßgefertigte »Billy«-Regale vom Tischler Die Provinz als Motor für Innovation und
um die Ecke und die Renaissance des Handels in den Stadtteilen neues Lebensgefühl?
In der Provinz gibt es durchaus Unter-
nehmen, die schon sehr weit sind. Bei-
spielsweise die Firma PIEL, ein C-Teile-
Herr Thinius, wo leben Sie zurzeit – in der Alles, was mit Homeoffice oder lokalen Anbieter aus Soest. Langweiliger geht es
Stadt oder auf dem Land? Co-Workings einhergeht, eröffnet voll- eigentlich gar nicht, denn C-Teile sind
Max Thinius: Zurzeit sowohl in Berlin kommen neue Lebensperspektiven. Die Sachen von geringem Wert, von denen
als auch in Kopenhagen und manchmal Digitalisierung macht heutzutage aber man aber jede Menge braucht, also so
auch auf der Insel Fünen, das wäre dann noch viel mehr möglich möglich, was etwas wie Schrauben oder Verbrauchs-
der Landanteil. noch vor ein paar Jahren undenkbar ge- material im Sicherheitsbereich wie bei-
wesen wäre. Selbst die Herstellung von spielsweise Handschuhe. Bei PIEL hat
Sie sagten vor mehr als zwei Jahren in ei- Waren und ganze Produktionsabläufe man gleich mehrere Systeme mit digita-
nem Interview, Sie wollten aufs Land zie- sind nicht mehr an einen Ort gebunden ler Anbindung entwickelt. In einem Fall
hen. Nach einem Vierteljahrhundert in der und können theoretisch überall stattfin- kann man seinen Arbeitsplatz nur betre-
Großstadt würde es Zeit dafür werden. den. Beispielsweise das Handwerk, das ten oder »in Gang setzen« wenn alle
Was hat Sie aufgehalten? mit digitaler Unterstützung in kleinere Materialien vor Ort sind, inklusive voll-
Verschiedenes. Aber auch Corona hat es und mittelgroße Städte zurückkehren ständiger Sicherheitsausrüstung. In ei-
komplizierter gemacht, diesen Plan um- kann. Es gibt inzwischen ein Netzwerk, nem anderem Beispiel gibt es Virtual-
zusetzen. Schon ein Besichtigungstermin das mehr als 35.000 Tischler umfasst, die Reality-Videos, mit denen Sicherheits-
war ja mühselig. Und ein großer Umzug alle über eine digitale Produktionsma- trainings für bestimmte Bereiche durch-
in Pandemie-Zeiten erschien auch nicht schine verfügen – die im Übrigen nur geführt werden. Sogar Augmented Rea-
gerade erstrebenswert. Auch deshalb noch ein Zehntel dessen kostet, vergli- lity setzt das Unternehmen ein und
sind meine Frau und ich noch in der Ab- chen mit dem, was sie noch vor sechs warnt am Arbeitsplatz vor herannahen-
wartehaltung. Jahren gekostet hat. Diese Tischler haben den Gefahren und optimiert durch
damit begonnen für große Möbelketten künstliche Intelligenz nebenbei den Ein-
Zurzeit wird darüber gestritten, ob der die Produktion, die oft in Asien stattfin- satz von Sicherheitsausrüstung. Damit
Rückzug aufs Land nur ein Corona-Phä- det, wieder zurück in kleinere Städte zu hat PIEL den Ausfall durch Unfälle dras-
nomen ist oder die konsequente Abkehr holen. Dabei können die bisherigen Stan- tisch reduziert und damit die Marge der
von der Großstadt. In NRW sieht man bei- dardregale, beispielsweise so ein Billy- betreuten Unternehmen erheblich gestei-
spielsweise seit 2017 verstärkten Weg- Regal von IKEA, sogar leicht individuali- gert – und die Zufriedenheit der Mitar-
zug aus den Großstädten in die Kleinstäd- siert werden, indem man sie in der Breite beiter gleich mit. PIEL ist heute längst
te. Wird das so weitergehen? anpasst. Denselben Trend gibt es auch im kein C-Teile-Lieferant mehr, sondern
Ganz klar: Ja. Das wird auf jeden Fall so Textilbereich, bei Schmuck und sogar im Dank digitalem »anders Denken« ein in-
weitergehen. Wir werden in den kom- Automobilbau. Im Prinzip kann in einer tegrativer Teil von Unternehmen bis in
menden Jahren sehen, dass immer mehr etwas größeren Garage heute mit ein die Human Ressources mit einem vielfa-
Menschen in kleinere und mittlere Städ- paar Robotern ein Auto gebaut werden. chen Nutzwert in verschiedenen Abtei-
te ziehen. lungen.
Warum sind denn gerade kleinere Städte
Was ist so reizvoll daran? dafür prädestiniert? Vermutlich könnte das Unternehmen
Zum einen ist Wohnraum in den Metro- Nehmen wir mal Berlin. Da liegt die Be- auch in Pinneberg oder Lüdenscheid
polen und auch vielen Großstädten ein- bauungsdichte bei 99,6 Prozent. Wo soll seinen Sitz haben. Entscheidend ist ja
fach zu teuer geworden, was viele junge da noch Platz für die Entwicklung klei- nicht die geografische Lage, sondern die
Familien schon jetzt dazu bewegt, sich ner Werkstätten sein? Da gibt es kaum Innovationsfreudigkeit der Geschäfts-
umzuorientieren. Die neuen technologi- noch Raum für Experimentierflächen – führung ...
schen Möglichkeiten machen es auch viel mal abgesehen von der Schwierigkeit, in Ohne kluge Köpfe und die Bereitschaft,
einfacher, von zu Hause aus zu arbeiten. dicht bevölkerten Strukturen die Geneh- etwas zum Besseren verändern zu wol-
52 Shopping Places* Magazine 2 / 2022

